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„Ein Kind sucht sich selbst die Lebensmittel, die es braucht“

kinder und lebensmittel

Der Ernährungsexperte und Autor Hans-Ulrich Grimm prangert in seinen Sachbuch-Bestsellern die Ernährungs-Industrie an. Sein jüngst erschienenes Buch trägt den Titel „Gummizoo macht Kinder froh – krank und dick sowieso“ .

vitesca: Herr Grimm, Sie haben selbst zwei kleine Töchter, 3 und 7 Jahre. Welches Essen ist für die beiden tabu?
Hans-Ulrich Grimm: Gar nichts. Kinder essen von Natur aus genau das was sie brauchen. Als Eltern haben wir nur die Pflicht, Ihnen ein gutes Angebot zu machen.

Aber wenn Sie Kinder entscheiden lassen, essen die doch nur Süßigkeiten!
Überhaupt nicht. Es ist eine Mär, dass Kinder so auf Süßes stehen. Natürlich braucht der kindliche Körper viel Energie, deshalb mögen Kinder oft lieber Obst als Gemüse. Gemüse enthält einfach zu wenig davon. Und deshalb greifen sie auch so gern zu Nudeln, Kartoffeln oder Pommes.

Aber manche Kinder sind doch total verrückt nach Süßem…
Naja, wenn Sie ein Kind auf Süß dressieren, gewöhnt es sich an den Geschmack. Von Natur aus ist das nicht so. Zucker ist ja kein Naturprodukt. Die Verdauung von Eskimokindern zum Beispiel kann ihn nicht einmal verarbeiten. Was Kinder dagegen von Natur aus mögen hat eine faszinierende Studie schon vor fast 100 Jahren gezeigt. Da hat die Kinderkrankenschwester Clara Davis abgestillten Kleinkindern lauter natürliche Nahrungsmittel angeboten – und sie selbst wählen lassen. Das Spannende war, dass sich die Kinder sehr individuell, entgegen allen damals geltenden Regeln ernährt haben, zeitweise sehr einseitig. Aber alle waren am Ende kerngesund, selbst die, die zu Beginn etwas kränklich waren. Die Erkenntnis ist also: Ein Kind weiß genau, was für seinen Körper gut ist.

Haben Sie das auch mit ihren eigenen Kindern probiert?
Im Prinzip schon. Eine meiner Töchter hat beispielsweise tagelang nur Butter gegessen. Bergeweise. Das lässt von alleine wieder nach. Wichtig ist, dass sie dem Kind nur echte Nahrungsmittel anbieten, keine Industrieprodukte.

Dazu müssen sie die Kinder aber von Werbung fernhalten, oder?
Nicht unbedingt. Meine Kinder schauen zwar praktisch nicht fern. Zum Testessen für meine Recherchen kaufen wir aber schonmal so quietschbunte Sachen. Wenn Kinder aber auf echten Geschmack programmiert sind, mögen Sie das Zeug nicht. Die Große sammelt zu Fasching beispielsweise Kamellen – weil es ihr Spaß macht. Daheim liegen die dann rum. Schwierig wird es, wenn der Nachbar Süßigkeiten über den Zaun reicht oder die Oma welche mitbringt. Zum Glück fragen heute viele Leute, bevor sie das tun. Nur beim Zahnarzt gibt es ungefragt Gummibärchen.

Sie warnen in Ihrem Buch eindringlich vor stark verarbeiteten Lebensmitteln. Was macht die so gefährlich?
Allgemein gesagt: der Interessenkonflikt. Die Industrie will etwas anderes, als der kindliche Körper. Konkretes Beispiel: Ein Babybrei von Hipp muss zwei Jahre haltbar sein. Und es kann einfach nicht im Interesse des Kindes sein, wenn das Essen älter ist als es selbst. Wenn ich zuhause Pfirsich-Apfelbrei mache, hält der nur zwei Stunden.

Das hat doch bloß etwas mit Hygiene zu tun. Die Gläschen mit dem Babybrei sind eben keimfrei.
Genau das ist ja das Problem. Das Immunsystem braucht Trainingspartner, es muss lernen, wer ein Feind ist und wer nicht. Diese doppelt erhitzte, keimfreie Nahrung führt zu einem völlig verpeilten Immunsystem, das Überreaktionen entwickelt wie Allergien. Die berühmten Bauernhofstudien haben ja gezeigt, dass jene Kinder am besten fürs Leben gerüstet sind, die im Stall spielen und Rohmilch trinken. Aktuelle Studien aus England besagen sogar, dass der Mangel an Mikroben das Hauptmanko an industriellem Essen ist. Außerdem gehen bei der Verarbeitung auch Nährstoffe und Vitamine verloren. Insgesamt nenne ich in meinem Buch deshalb 10 Gründe gegen industrielle Nahrung.

Produkte wie zum Beispiel Quetschobst. Ich dachte immer, das wäre eine clevere Alternative zu Obst. Warum nicht?
Das Problem ist, dass die Früchte erhitzt wurden. Dabei gehen nicht nur die Vitamine und Mikroben hops, sondern es entstehen sogar neue Stoffe, besonders die AGEs, was für Advanced Glycation Endproducts steht. Die entstehen bei Verzuckerung unter Hitze – auch bei uns im Körper. Nicht alles daran ist schlecht. Es ist aber unter anderem ein Zusammenhang zwischen Alterungsprozessen und den AGEs nachgewiesen. Und moderne Kindernahrung enthält viel zu viel davon. Babynahrung im Drogeriemarkt: alles hoch erhitzt. Das Essen bei McDonalds: voll von Alterungsbeschleunigern.

Was ist also zu tun? Wenn Sie könnten, was würden Sie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ändern?
Ich bin ja nicht König von Deutschland, zum Glück, kann also auch an keiner Stellschraube drehen. Ich setze mich einfach nur hin und schreibe ganz bescheiden auf, was Sache ist. Ich versuche, die Interessenkonflikte offenzulegen. Die Eltern müssen dann entscheiden was sie machen.

Was hat sie bei Ihren Recherchen denn am meisten überrascht?
Wie eng die Verzahnung zwischen Industrie und Wissenschaft wirklich ist. Es gibt da einen Kollegen, Professor Berthold Koletzko, der die Bundesregierung oder den Freistaat Bayern in Sachen Kinderernährung berät, der über Forschungsmillionen verfügt. Gleichzeitig ist aber seine Liste der Nebenbeschäftigungen lang, unter anderem arbeitet er für Hipp. Dieser Berthold Koletzko hat also kürzlich auf einem Kinderärztekongress in Hamburg neue Richtlinien vorgestellt und gesagt, Gläschenkost sei das Beste für kleine Kinder. Wer dennoch selbstgemachten Brei verabreichen wolle, solle zumindest Jod hinzugeben.

Warum denn Jod?
Genau das habe ich mich auch gefragt! Ich habe überall nach der Antwort gesucht – habe aber keinen Grund gefunden. In Zeiten, als Obst und Gemüse noch von der eigenen Scholle stammten und man in einem Jod-Mangelgebiet wohnte, wie zum Beispiel der Schweiz, da bestand vielleicht ein Risiko. Nicht aber heute. Die Bundesregierung hat mal den Arbeitskreis Jodmangel eingerichtet, um das zu untersuchen. Der hat aber kein Anzeichen für Jodmangel gefunden. Selbst die Behörden in der Schweiz, wo ich mit Professor Roger Lauener gesprochen habe, halten selbstgekochten Babybrei heute für den besten. Deutschland hinkt wegen der Verzahnung mit der Wirtschaft aber hinterher. Ich kann also nur hoffen, dass jene, die hier Einfluss auf die Eltern haben, endlich einen klaren Kopf kriegen.

Aber sind es nicht auch ganz praktische Gründe, warum Eltern ihre Kinder heute viel mit industriellen Produkten ernähren? So geht es doch schneller.
Die Frage sollte doch sein: Was ist gut für das Kind. Die Beste Lösung dauert vielleicht eine Minute länger. Bei der Zweitbesten spart man etwas Zeit und das Kind kriegt Allergien. Wenn die Eltern das wüssten, würden sie sich wohl meist für die erste entscheiden.

Aber wie funktioniert das in der Praxis, wenn Kinder immer selbst entscheiden dürfen, was sie essen? Wie sehen Mahlzeiten in Ihrer Familie aus?
Wir müssen ja nicht alle das Gleiche essen, aber trotzdem gemeinsam. Und natürlich habe ich keine Lust, für vier Leute separat zu kochen. Es kommt ein Gericht auf den Tisch. Nur dass die eine dann eben vielleicht nur Nudeln mit Parmesan isst, die andere ganz viel Soße. Das ist total entspannt. Meine Kleine wollte gestern unbedingt noch Pommes haben – da habe ich sie auf den nächsten Tag vertröstet. Man darf nur nichts in die Kinder hineinzwingen. Wie zum Beispiel Vollkorn…

Moment mal – was ist denn bitte schlecht an Vollkorn?
Seit es in den 40er-Jahren den Reichsvollkornbrotausschuss gab, steckt dieser Gedanke in den Köpfen und Eltern fühlen sich instinktwidrig aus ideologischen Gründen zu etwas genötigt, was die Kinder oft gar nicht wollen. Im Internet berichten Eltern dann von Tränen und Durchfall. Dabei wird Vollkorn überschätzt. In der Schweiz gilt es inzwischen als Eisen-Räuber, dort leiden viele Mädchen unter Eisenmangel. Nichts gegen die Lehre einer vollwertigen Ernährung! Die ist natürlich gut und richtig. Ich bin nur kein Ideologe: Ein Kind hat einen Organismus, der hat Bedürfnisse und es sucht sich selbst die Lebensmittel die es braucht.

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FinePic / Helmut Henkensiefken

Der Journalist Dr. Hans-Ulrich Grimm lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Stuttgart, seine Recherchen rund um die Nahrungsmittelindustrie führen ihn regelmäßig in die ganze Welt. Sein Credo: Genuss und Gesundheit gehören zusammen. Mit Bestsellern wir „Die Suppe lügt“ hat er sich als einer der führenden Nahrungskritiker etabliert. Sein jüngstes Buch „Gummizoo macht Kinder froh“ ist bei Droemer Knaur erschienen, hat 368 Seiten und kostet 18 Euro.

Das Interview führte Erik Schweitzer

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